Mein Twitter

Was ist dieses Twitter?
…war die Frage, als ich meinen Account aufsetzte und meinen ersten Tweet schrieb. 140 Zeichen lang durfte er sein, inklusive allfällig referenzierten Twitternamen und Bild-URLs.

Begegnungen auf Augenhöhe
Schon bald folgte ich ein paar fremden Menschen, lernte dass sich hier Alle Duzen, wechselte ein paar freundliche Worte, und landete wie selbstverständlich in einem neuen, sozialen Umfeld. Natürlich wuchs auch meine Followerzahl stetig bis über 3’500. Private, Direktoren, Politiker, Journalisten, Helpcenters, eine grosse Gemeinschaft von Menschen, die sich auf Augenhöhe begegneten und sich gegenseitig austauschten und ermutigten.

Sprache
Schnell lernte ich, Sprache bewusst zu formen, entfernte Füllwörter, liess Nebensächliches weg, und staunte, dass sich eine ganze Geschichte erzählen liess in 140 Buchstaben. Die Zeichenzahl wurde später erhöht und zusätzlich wurde Raum gegeben für „Adressen“ von Twitternamen und Bild-URLs. Ein Tweet darf heute 280 Zeichen haben, netto.

Eine erste Twitterfreundschaft entstand mit der strahlenden Christina, die mir in Vielem zum Vorbild wurde, ihre Sprache fliesst nicht nur klar und zielstrebig wie ein Bergbach, sie hat auch sehr breites Wissen, Humor und die Begabung, zwischen den Zeilen zu lesen. Mit ihrer präzisen Sprache ist sie mir zum Vorbild geworden. Sprache entdeckte ich als edlen Wert.

Wertschätzung
Hast Du Dich genervt, wie ich im vorletzten Absatz Berufsgruppen aufzählte? Hast Du Dich gestört an der maskulinen Form? Falls nicht, bist Du vermutlich ein Mann. Via Twitter habe ich gelernt, Menschen korrekt anzusprechen. Dieses „Korrekt“ ist nicht zwingend eine vorgeschriebene Form aus dem Duden, es ist aber zwingend eine Sprache in welcher der/die Angesprochene sich selbst erkennt. Hätte mein Chef damals geschrieben, dass alle Arbeitnehmerinnen im neuen Jahr mehr Lohn erhalten, dann wäre ich vermutlich auf die Barrikaden gegangen, genauso wie es heute viele Frauen tun, um konkret angesprochen zu werden.

Andere Ansichten kennenlernen
Gendern, heisst obiges Thema. Ich kann weitere Lern-Themen aufzählen, auf die ich aufmerksam wurde weil ich durch Twitter „eine neue Bubble“ betreten hatte. Viel, mir Selbstverständliches habe ich durch andere Augen gesehen und mein Gesichtsfeld wurde erweitert. Vor Twitter hatte ich nie ernsthaft mit einem Trans-Menschen gesprochen, auch nicht mit TV-Journalist:innen, auch nicht mit einem Abt vom Kloster Einsiedeln oder einer Prostituierten. Ich lebte in meinen Bubble, Familie, Gemeinde, Senioren, Arbeitskolleg:innen. Twitter hat mir die Türe geöffnet zum Gespräch – auf Augenhöhe. Ich fand und finde dies so sehr wertvoll.

„Andreas hat eine GIF-Allergie…darauf sollten wir Rücksicht nehmen“,
twitterte @Harassli kürzlich. Ich musste so Lachen darüber. Ja, Twitter ist auch Spass, zum Glück. Viele coole Sprüche habe ich gelesen und mich oft köstlich amüsiert. Womit ich aber (mit ganz wenig Ausnahmen) tatsächlich nie warm wurde waren diese GIF-Animationen. Twitter wuchs von 140 Zeichen auf 280 und es wuchs auf manch weiteren Ebenen, eine GIF-Bibliothek zum Beispiel. Diese Bibliothek mit „witzigen“ GIFs passt meiner Meinung nach nicht in eine Umgebung, die Sprache kultiviert. Natürlich ist es mal witzig, ein Bild zu nutzen, statt tausend Worte. Wenn ich dieses „witzige“ GIF dann zum hundertsten mal vorgespielt bekomme wirkt es halt wie ein hundert mal erzählter Witz. Ich wundere mich echt, dass ich der Einzige zu sein scheine, der da nicht mitlachen kann. Sorry. Twitters Stärke ist die Sprache.

#monDay
…ist keine Twitterfunktion. Ich hatte den Montag aber zu MEINEM Tag erkoren, ein Tag ohne Pflichten, ohne Arbeit, ohne nix. So bestieg ich dann einen Zug und twitterte: „hat jemand Lust auf eine Begegnung, einen gemeinsamen Kaffee, Lunch oder irgendwas in irgendwo?“. Und siehe da, wohl 30 Mal konnte ich jemandem begegnen den/die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Und ja, das fand ich wunderbar. Diese Begegnungen waren mir Gold wert, allesamt. Als Pensionierter darf man Zeit auch einfach geniessen. Twitter und Pensioniert, ein tolles Team!. Meine Erkenntnis auch hier, es geht um Menschen, um Begegnung, Twitter ist ein wertvolles Tool dazu.

Geplante Begegnungen
Später entstanden daraus auch geplante Begegnungen. So durfte ich an drei Tagen wunderbare, lange Segway-Touren unternehmen, die Köchin Michèle lud mich zum Mittagessen auf ihrem Balkon. Ich kannte zwar nur ihren Twitternamen und die Adresse. Welchen Klingelknopf sollte ich drücken vor dem Mehrfamilienhaus? Zum Glück las sie zeitnah meinen Tweet und löste das Rätsel. Dank Twitter konnte ich an drei Vorlesungen der FHNW online teilnehmen. Seit mehreren Jahren leiht mir Elisabeth, eine wunderbare Twitterfreundin ihre Dachbox für die Skiferien, Auf- und Abbau ist immer eine lustige Begegnung. Spaziergänge am See, Hundewalks und Stadtbesichtigungen erlebten wir zusammen, wirklich sehr, sehr schön. Mit meinen drei besten Freunden besuchte ich Sivia und ihre innovative Firma. Wir erlebten mit all ihren Mitarbeitenden einen sehr interessanten und tollen Tag. TweetUps in Zürich, Bern, Aarau, Olten, Villmergen, ein Skitag mit einheimischer „Skilehrerin„, nostalgische Bahnfahrt in Davos mit Mittagessen bei Susanne, ein Aarauer Stadtspatziergang mit Susan und sogar zwei Hotelübernachtungen in Rabius gehören zu den grössten Highlights meiner Twitterzeit, echt ein wertvolles Geschenk. Diese Liste zeigt sehr schöne Highlights, vollständig ist die Aufzählung nicht. Und auch hier, es geht um Menschen, um Beziehung, ums Stärken von Gemeinsamkeiten.

SBB Servicescout
war ein riesiges Highlight. Als ich die Anfrage erhielt glaubte ich zuerst an FAKE. Und doch wurde es war, ein Jahr lang wurde ich zu SBB Events eingeladen, lernte die Verantwortlichen kennen fuhr im Event-Speisewagen und landete, zusammen mit dem SBB CEO dabei auf der Blick Seite 1. Lohn oder Spesen gabs nicht, dafür ein GA. Mein Twitter Lotto-Sechser. Dafür twitterte ich durch die SBB. Wunderschöne Zeiten.

Highligts
Von so vielen Highlights könnte ich noch erzählen, der Abt, der fragte ob sich meine Mutter an einem Geburtstagsanruf freue würde. Ja klar, und WIE sie sich freute, und das Erlebte herum erzählte. Mit ihr hatte ich viel über Twitter geredet und sie auch viel auf Twitter erwähnt. Das wunderschöne Buch, das ich noch vor Veröffentlichung lesen durfte, oder auch viele ermutigende Dialoge über DM, den Dia-Scanner, den ich ausleihen durfte, die täglichen Mathe-Tweets von denen ich zwar Manche nicht verstand und dennoch einiges Auffrischen konnte, undsoweiter, undsofort. Ja, Twitter hat mir viel gegeben.

Bergab
Wie dies passieren konnte weiss ich nicht, ein ungenau formulierter Tweet von mir und ich wurde angepöbelt, geblockt. Mehrtägige, nicht abbrechen wollende Schnödereien um NetzCourage, öffentliche Blocklisten – und weil ich dagegen argumentierte, wurde ich blockiert. Ein anonymer „Therapeut“ argumentiert gegen Wirksamkeit von Antidepressiva, mein Einsatz gegen öffentliches Debatieren endete im Block. Einer fotografiert eine falsch parkierende Autofahrerin und zeigt sie an. Eine Woche später hatte der Tweet 1’283 Likes, 103 RT und 111 (meist applaudierende Replies). Corona Diskussion – alle sind Experten. #noXYZ und #XYZmussWeg Hashtags werden präsentiert. Die grenzenlose Wichtigtuerei und Überheblichkeit von so Manchen, oftmals Anonymlingen nimmt zu und ich frage mich, muss ich mir dies weiter antun? Nein, muss ich nicht. Threads, mit jedem x-ten Tweet sind unsichtbar – weil ich geblockt bin. Nein, dies ist nicht mein Ding, so geht das nicht Leute. Argumentieren ist ja schön, andern Ansichten Gehör verweigern ist aber übel.

Was also ist dieses Twitter
Schade! Wirklich sehr sehr schade. Für mich war Twitter eine ganz, ganz grosse Entdeckung, wertvoll, lehrreich, spassig – der Zugang in eine wunderbare Welt der offenen Diskussion, Freundschaft weit über mein lokales Umfeld hinaus. Viel Neues habe ich gelernt, viele Ansichten kennengelernt, viel Freude hat mir diese Plattform bereitet, viele Freundinnen und Freunde habe ich hier gewonnen. Wunderbare Begegnungen, sehr wertvolle Menschen, viel Wissen und konkrete Hilfe – und vor allem, viel Offenheit und viel gegenseitige Wertschätzung.

Und jetzt, wie weiter?
Ich mache es mal wie der Bundesrat, ich beobachte.

(mein DM-Kanal bleibt offen, meine #MonDay-Aktivitäten, mein Ohr und mein Herz auch).

4 Gedanken zu “Mein Twitter

  1. Danke für diese tolle Zusammenfassung, wie Du zu Twitter kamst. Und was Du damit erlebt hast.
    Ich erkenne mich selbst in vielem wieder.
    Schade, was dann geschehen ist.
    Ich bleibe und poste weiter, bin aber nun auch im Fediverse drüben und gucke, was mir langfristig mehr Perspektiven bietet.

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    • Lieber Andreas

      Super geschrieben! Sachlich argumentiert, präzise formuliert – und doch spürt man dahinter die feinfühlige Persönlichkeit mit dem grossen Gspüri für Menschen und ihre Geschichten.

      Genau so hab ich dich kennengelernt. Ich bin dankbar für diese Begegnungen mit einem mir vorher völlig unbekannten Menschen.

      Meine persönliche Erfahrung: Alle Begegnungen waren positiver als ich es mir zuvor vorgestellt hatte. Man geht mit angezogener Handbremse ins Meeting und kommt reich beschenkt wieder raus. Es gibt nichts Wertvolleres als die Begegnung mit anderen Menschen.

      DANKE FÜR ALLES!
      Susanne

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  2. Ich glaube du sprichst sicher vielen aus der Seele . Du holst mich aber durchaus mit deiner Warnehmung ab , es gibt viele hochnäsige wichtigtuer die sich überheblich verhalten. Ich frage mich oft ? Wie solche Leute im realen Leben wohl sind. Ich weiss es nicht. Und da es an der Art dieser Plattform liegt, ist doch eine gewisse Anonymität vorhanden. Was auch gut ist , aber Vertrauen hier aufzubauen ist dadurch eher schwierig. Und so bleiben diese Twitter Freunde /Beziehungen eher oberflächlich . Ich sag immer das Leben findet offline statt und nicht online.

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    • Herzlichen Dank für Dein freundliches Feedback. Ich schätze das sehr. Dein letzter Satz stimmt für mich nur zum Teil. Ich habe durchaus sehr feste und solide Beziehungen zu Twitterfreund:innen die ich noch nie persönlich getroffen habe.

      Eine frühe Beobachtung die ich an einem Anlass machte. Sagt eine Frau:
      “Darf ich Dir meine Freundin Anna vorstellen? Ich sehe sie heute auch zum ersten mal”.

      Diese Nähe, entstanden durch viele Diskussionen ohne sich je gesehen zu haben, ist für mich das Faszinierenste überhaupt an Twitter.
      Lieben Gruss, Andreas

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